Ringvorlesung 2015
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16.04.2015 Annette Henninger (Politikwissenschaft) Bekämpft, gefördert und beschworen: Die Familie im Spiegel gesellschaftlicher Debatten Als Einstieg in die Vorlesungsreihe zeichnet der Vortrag Themenkonjunkturen der gesellschaftlichen Debatte über die Familie nach. Die neue Frauenbewegung in den westlichen Industrieländern identifizierte die Kleinfamilie mit einem männlichen Ernährer und einer nicht-erwerbstätigen Hausfrau und Mutter als Konstrukt der bürgerlichen Moderne. Sie bekämpfte die Familie als einen Ort der Ausbeutung der unbezahlten Arbeit von Frauen und der Gewalt von Männern über Frauen. Die neuen sozialen Bewegungen experimentierten mit Lebensformen jenseits der Kleinfamilie. Zugleich wurde die Kleinfamilie im ‚goldenen Zeitalter’ des westlichen Wohlfahrtsstaates staatlich gefördert. Die feministische Wohlfahrtsstaatsforschung wies nach, das dies im Ländervergleich in unterschiedlicher Intensität geschah: So galten die skandinavischen Länder als Vorreiter eines egalitären Wohlfahrtsstaates, während im konservativen Deutschland das männliche Ernährermodell besonders intensiv gestützt wurde. Obwohl durch die Wiedervereinigung mit dem in der DDR verbreiteten Doppelverdiener-Modell konfrontiert, reagierte Deutschland erst verspätet auf den Wandel von Geschlechternormen und die Pluralisierung von Familienformen. Im Kontext der jüngsten familienpolitischen Reformen wurde ein neues Elterngeld mit Vätermonaten eingeführt, der Ausbau der Kleinkindbetreuung forciert und zuvor an die heterosexuelle Ehe gebundene Vergünstigungen auf gleichgeschlechtliche Paare ausgeweitet. Manchen geht diese Modernisierung zu weit: die konservativen Parteien setzten ein Betreuungsgeld für traditionelle Familien durch, und die AfD betrachtet die Familie wieder als ‚Keimzelle der Nation’. Rechtskonservative beschwören damit eine Lebensform, die sich de facto im Niedergang befindet.
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23.04.2015 Marita Metz Becker (Europäische Ethnologie) Mythos Mutterschaft. Kulturhistorische Perspektiven auf den Frauenalltag des 18. und 19. Jahrhunderts In ihrem Beitrag „Mythos Mutterschaft. Kulturhistorische Perspektiven auf den Frauenalltag des 18. und 19. Jahrhunderts“ fragt die Kulturhistorikerin Marita Metz-Becker wie unsere gegenwärtigen Mutterbilder entstanden sind und begibt sich auf Spurensuche ins 18. und 19. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der Aufklärung und der Rousseauschen Forderung „Zurück zur Natur“ wurde nun auch Mütterlichkeit als naturgegeben angesehen und der weibliche Geschlechtscharakter – die „Natur“ der Frau sozusagen – definiert. Einstige soziale oder kulturelle Unterscheidungsmerkmale der Geschlechter mussten dem neuen Diktat der Natur weichen. Es entwickelte sich mit der nun einsetzenden Industrialisierung die bürgerliche Kleinfamilie, die in Schillers „Lied von der Glocke“ (1799) auf den Punkt gebracht wird: „Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben…. Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau…“. In diesem häuslichen Innern konnte die bürgerliche, von Erwerbsarbeit befreite Hausfrau, als „ gute Mutter“ reüssieren und ein Leitbild für alle nachfolgende Generationen schaffen, das quer durch alle sozialen Schichten eine ungeheure Wirksamkeit entfaltete und an dem sich bis heute, allen Anachronismen zum Trotz, Frauen und Mütter abarbeiten.
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30.04.2015 Juana Remus (Humboldt Law Clinic, Berlin) Familien nach rechtlichem Ideal?! Zur Rolle des Rechts bei der Konstruktion von familialen Lebensweisen Recht spielt eine ambivalente Rolle in der Konstruktion der Normfamilie. Zum einen strukturiert es das herrschende heteronormative und gesellschaftliche Verantwortung individualisierende Familienmodell durch personenstandsrechtliche und familienrechtliche Regelungen ganz entscheidend. Andererseits kann es eine Vorreiterrolle in deren Durchbrechung spielen, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Sukzessivadoption von gleichgeschlechtlichen Eltern zeigt. Drittens wird es selbst von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen entscheidend beeinflusst, allem voran von der Abstammungsfixiertheit des gesellschaftlichen Diskurses um familiäres Glück. Doch oft läuft es der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher, zum Beispiel wenn Männer Kinder bekommen oder Sorge im Alter in reichen Industrieländern im weniger durch die Bio-Familien geleistet wird und werden will. Anhand von Mehrelternschaften, Transelternschaft und soziale Wahlverwandtschaft wird Juana Remus zeigen, wie sowohl das Recht als auch das traditionelle Familienverständnis durch gelebte familiale Konstrukt herausgefordert wird. Um die sozialen, politischen und rechtlichen Einschränkungen, die mit dem aktuellen Familienmodell einhergehen, zu überwinden, werden an diesem Abend von den Referentinnen auch emanzipative Familienmodelle wie die Freundschaftsfamilien und soziale Elternschaften diskutiert.
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21.05.2015 Annika Sominka & Irmgard Diewald (Politikwissenschaft) Politik des Familialen - Zum Zusammenhang von Staat, Nation und Familie in Deutschland und Schweden Ausgehend von der These Staat macht Familie, begeben sich die Referentinnen auf eine Spurensuche des Konstrukts der Familie in Deutschland und Schweden von der Nationalstaatsbildung bis heute. Nach Teresa Kulawik führten schon unterschiedliche politische Konstellationen während der Nationalstaatsbildung in beiden Ländern zu divergierenden Familienpolitiken (Kulawik 1999) und damit einhergehenden unterschiedlichen Geschlechter- und Wohlfahrtsregimen. Anhand der Theorie des historischen Institutionalismus, und der Frage nach Pfadabhängigkeiten wird im Vortrag die Frage nach dem Konstrukt der Familie in staatlichen Politiken in Schweden und Deutschland im Zusammenhang von Staat, Nation und Familie gestellt. Thesenartig sollen dabei strukturelle Nachwehen historischer Konstellationen bis in die Gegenwart nachvollzogen werden. Ziel ist es die vermeintlich so unterschiedlichen Wege der Familienpolitik in Deutschland und Schweden vergleichend gegenüberzustellen und dabei nachzuvollziehen, inwiefern sich Familien- und Geburtenpolitiken entlang der Linien der sozialen Klassifizierung und der Konstruktionen von nationaler Zugehörigkeit entwickeln. Dabei gilt es die Relevanz des Begriffspaares „Privatheit und Öffentlichkeit“ für eine feministische Gesellschaftskritik abermals zu verdeutlichen.
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28.05.2015 Maria Kontos (Institut für Sozialforschung, Frankfurt/Main) Bezahlte Hausarbeit heute: Modernisierung und Refeudalisierung im familiären Kontext Die Beschäftigung von Migrantinnen als bezahlte Hausarbeiterinnen in Familien wird immer stärker zur Lösung für das Problem der Erledigung von familiären Care-Aufgaben in einem traditionell verbliebenen Geschlechterarrangement und ermöglicht dadurch die Integration von (ortsansässigen) Frauen in den Arbeitsmarkt. Damit werden einerseits wichtige Emanzipationsansprüche der Frauenbewegung realisiert. Dieser Modernisierungsschub für (ortsansässige) Frauen geht andererseits mit der Herstellung semi-feudaler Arbeits-Verhältnisse einher. So hat die feministische Debatte zu den Arbeits- und Lebensverhältnissen der Migrantinnen in der Care-Arbeit insbesondere auf das Fehlen von Arbeitsrechten in diesem Bereich hingewiesen. In ihrem Vortrag wird die Referentin zuerst die durch die Präsenz im familiären Kontext der bezahlten migrantischen Hausarbeiterinnen - insbesondere der als „Live-in“ arbeitenden - entstehenden Transformationen als Ergebnis der Überlappung von familiären und ökonomischen Logiken innerhalb des Feldes diskutieren. Es geht ihr dabei um die strukturellen Aspekte der „Ent-Familialisierung“ der Hausarbeiterinnen, das heißt ihre langfristige Trennung von der eigenen Familie, was als Fehlen eines Rechtes auf privates und Familienleben interpretiert werden kann und den Refeudalisierungstrend am ehesten sichtbar macht. Anschließend soll die Frage diskutiert werden, welche normativen Veränderungen die Überlappung der zwei Logiken innerhalb des familiären Kontextes hervorbringen und wie diese von den beteiligten Arbeiterinnen und Arbeitgeberinnen erfahren und bewältigt werden.
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11.06.2015 Aliyah El Mansy (ev. Theologie) Interreligiöse Ehen in der Antike Antike Städte sind von Pluralität geprägt: Menschen verschiedener Religionen, Ethnien und Gesellschaftshintergründe treffen aufeinander. Waren und Dienstleistungen werden getauscht, man trifft sich in den Handwerkergilden, auf dem Markt und bei kultischen Festen. Dennoch gibt es klare Abgrenzungen, die auch durch Ehegesetze gezogen werden. Interreligiöse Ehen stellen eine Herausforderung dar – sie werden mit Misstrauen betrachtet, geduldet oder verboten. Der Vortrag wird unterschiedliche Positionen zu interreligiösen Ehen aufzeigen und sie jeweils als Teil verschiedener Identitätsdiskurse beleuchten. Dabei wird auch deutlich werden, wie die frühkaiserzeitlichen Texte hegemoniale Diskurse zur Konstruktionen von Familie, Ehe und Geschlecht verarbeiten. In der Antike formulierte jüdische und christliche Positionen zu religionsverschiedenen Ehen erweisen sich damit auch als Reflex ihrer kulturellen Entstehungskontexte.
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18.06.2015 Carmen Birkle (Amerikanistik) Family Matters: Familie im Spannungsfeld von Tradition und Veränderung in U.S.-amerikanischen Fernsehserien Familie und Nation sind in den USA nicht erst seit der Gründung des Landes eng miteinander verwoben. Schon im frühen Puritanismus des 17. Jahrhunderts wurde Familie als von Gott gegebene Organisationsform verstanden, die für eine funktionierende Gesellschaft wesentlich war. Im weiteren Verlauf der Geschichte wurden Veränderungen in der Familienstruktur und den zuvor klaren Geschlechterrollen häufig mit einem drohenden Niedergang der Nation, der im frühen 20. Jahrhundert als “race suicide” bezeichnet wurde, gleichgesetzt. Im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert greift das Medium Fernsehen in Form von Fernsehserien aktuelle Entwicklungen in verschiedensten Variationen auf, kommentiert diese und lädt zum Nachdenken über neue Formen, Strukturen und Funktionen ein, die in meinem Beitrag u.a. anhand der Serien The Cosby Show und Gilmore Girls diskutiert werden sollen.
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25.06.2015 Marie Reusch & Viviane Vidot (Politikwissenschaft) Familienpolitik und die Emanzipation von Müttern Familienpolitik kann die Emanzipation von Müttern befördern, aber auch behindern. Im Beitrag soll dem Zusammenhang von Emanzipation und Mutterschaft nachgegangen werden - zum einen am Beispiel der Mütterbilder kommunaler familienpolitischer Akteure; zum anderen am Beispiel feministischer wissenschaftlicher Analysen von Familienpolitik.
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02.07.2015 Anika Oettler (Soziologie) Die soziale Konstruktion der lateinamerikanischen Familie Lateinamerikanische Geschlechterverhältnisse werden vor allem mit den Begriffen des Machismo und Marianismo assoziiert. Der Vortrag skizziert die historische Entwicklung lateinamerikanischer Familienkonstruktionen und wirft vor diesem Hintergrund einen kritischen Blick auf die ideologische Bedeutung von Familienbildern, die gegenwärtig in medialen und politischen Diskursräumen zirkulieren und der komplexen sozialstrukturell gebrochenen Realität von Partnerschaften und Fürsorgebeziehungen nur bedingt entsprechen.