18.06.2025 Rückblick: Vortragsreihe des Zentrums für Konfliktforschung und der Universitätsstadt Marburg thematisiert gesellschaftliche und politische Teilhabe auf dem Richtsberg
Am Mittwoch, 11. Juni 2025, richtete das Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und die Universitätsstadt Marburg gemeinsam einen Runden Tisch unter dem Titel „Sozialwissenschaft und politische Teilhabe“ ein. Die Veranstaltung im Forum der Richtsberg Gesamtschule war Teil der etablierten Ringvorlesung „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“, die seit über zwanzig Jahren aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen in den Blick nimmt. Die Reihe verließ somit erstmals die Universität und ging bewusst in einen der Marburger Stadtteile – ein Schritt, um den Dialog zwischen Forschung und Alltagspraxis zu stärken. Das Ziel: Wissenschaft nicht nur über, sondern mit der Gesellschaft zu denken und zu gestalten.

Von Philipp Lottholz, Zentrum für Konfliktforschung
Die Idee für den Abend war es, das diesjährige Rahmenthema der Vorlesung „Wissenschaft und Gesellschaft: Symbiosen, Konflikte, Potenziale“ im Kontext des Richtsbergs aufzugreifen und miteinander zu überlegen und zu diskutieren, wie wissenschaftliche Einblicke und Forschungspraktiken dabei helfen könnten, mit aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen hinsichtlich politischer Teilhabe und gesellschaftlichen Zusammenhalts umzugehen.
Wie Jugend und weitere Gruppen für Engagement und Vereinsarbeit gewinnen?
Besonderes Anliegen des Abends war es, die Perspektiven und Erfahrungen der Bewohner*innen des Richtsbergs und insbesondere dort ansässiger Vereine und Initiativen in den Mittelpunkt zu stellen. Dr. Raghdan Baroudi vom Islamischen Kulturverein HADARA e. V. und Erika Dorn vom Verein Lebenswerter Stadtteil Richtsberg e. V. berichteten von der langjährigen Arbeit der Vereine. So bieten Flohmärkte, Kulturfestivals und interkulturelle Fahrten z.B. nach Köln und Berlin wichtige Möglichkeiten des Kennenlernens, während jährliche Gesundheitstage und Erste-Hilfe-Kurse wichtiges Wissen und spezielle Kenntnisse für Notsituationen liefern.
Hinsichtlich aktueller Herausforderungen nannte Dr. Baroudi zuvorderst das Problem hoher bürokratischer Anforderungen bei Förderanträgen und für Steuerklärungen, die jährlich drei- bis vierstellige Beträge beanspruchen und de facto keine nachhaltige Vereinsarbeit zulassen. Hierzu brauche es schnelle und direkte Hilfe, etwa in Form direkter Finanzierung von Personal- und sonstigen Ausgaben der Vereine durch die Stadt. Die zentrale Herausforderung der Vereine ist es Menschen für ehrenamtliches Engagement zu motivieren. Frau Dorn warf dabei die Frage auf, ob solches Engagement „ansteckender“ sein müsste und inwieweit es abhängt von Faktoren wie der Erziehung, veränderten Lebensbedingungen aktueller junger Generationen, sowie von Werten wie Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft, wie sie etwa in religiösen Kontexten vermittelt werden. Die weitere Diskussion arbeitete die „aktions- und projektorientierte“ Arbeitsweise von Jugendlichen heraus, der in ehrenamtlichen Kontexten Raum geboten werden muss, um junge Menschen langsam an längerfristiges Engagement und Verantwortung heranzuführen.
Politischer Teilhabe stärken, aber auch sozialen Frieden und Zusammenhalt jenseits der Politik
Ein wichtiger Hintergrund der Veranstaltung war die geringe Wahlbeteiligung am Richtsberg im Vergleich zu anderen Marburger Stadtteilen (43,55 % gegenüber 69,1 % in der Bundestagswahl 2023) sowie die hohe AfD-Wählerquote (27,87%), die im Projekt „Ungleichheit und Verteilungspolitik" von Prof. Miquel Pellicer (ZfK) kartografisch dargestellt sind.
Diese Problematik griff Stadträtin Kirsten Dinnebier auf, die selber auf dem Richtsberg aufgewachsen ist und seit vielen Jahren für die Lösung sozialer Fragen und Probleme sowie für Gleichstellung und gleichberechtigte Vielfalt kämpft. Sie wies auf das weiterhin bestehende Missverhältnis zwischen (Großteils männlichen und deutschstämmigen) parlamentarischen Vertreter*innen und einer sehr diversen Bevölkerung in Deutschland sowie in Marburg hin. Umso wichtiger sei es für Politiker*innen, für die Menschen da zu sein und ihnen zuzuhören, wie es Frau Dinnebier in regelmäßigen Sprechstunden u.a. auf dem Richtsberg praktiziert und ein neues Format für den Richtsberg prüft. Das Marburger Stadtlabor und das Programm „Sozialer Zusammenhalt", welches die Erkenntnisse und Empfehlungen daraus umsetzen soll, ein weiteres Beispiel für partizipative und bedürfnisorientierte Politik, für die die Wissenschaft weitere Formate und Ideen liefern könne, so Dinnebier. Hierbei sei es jedoch ebenso wichtig, Drittstaatler*innen ohne Wahlrecht, die zahlreich auf dem Richtsberg wohnen, gesellschaftliche Teilhabe und Adressierung ihrer Interessen zu ermöglichen und so ein friedliches Miteinander und Zusammenhalt zu sichern.
Dr. Tareq Sydiq vom Zentrum für Konfliktforschung lieferte Überlegungen zur Rolle sozialer Faktoren für die Beteiligung an Wahlen und in politischen sowie zivilgesellschaftlichen Kontexten. Hierbei sei es entscheidend, solchen Menschen und Gruppen Einblicke in und Zugang zu Beteiligung und Engagement zu bieten, denen sich aufgrund sozialer Faktoren keine Gelegenheit dafür bietet. Sozial schwache Schichten oder Frauen können etwa umfangreiches ehrenamtliches Engagement aufgrund langer Arbeitszeiten sowie “Care”-Arbeit und Regeneration oft schlichtweg nicht einrichten. Die weitere Diskussion ergab zudem, dass selbst Menschen mit Interesse und Kapazität für Engagement es mit weiteren Hürden zu tun bekommen, etwa in sprachlich-kultureller Hinsicht oder in Form von Ausgaben für Freizeitaktivitäten, die sich nicht alle leisten können.
Umfangreiche Initiativen, Angebote und Erfolge noch sichtbarer machen
Relative Einigkeit zwischen dem Publikum und den Diskutierenden des Runden Tisches bestand bezüglich der ambivalenten Rolle von Wahrnehmungen und der medialen Berichterstattung. Ein Besucher mahnte an, der Richtsberg würde, auch von den eigenen Bewohner*innen, noch zu sehr als Hochhausviertel und mit den entsprechenden Klischees dargestellt werden, während die umfangreiche öffentliche Infrastruktur und Grünflächen wie der Vitos-Park zu wenig Aufmerksamkeit bekämen.
Diesem pflichteten die Diskutierenden bei: Für die lokale Presse seien gute Nachrichten praktisch keine Nachrichten, müssten in einer ausgewogenen Berichterstattung aber als ebenbürtiger Teil dargestellt werden. Allein das Angebot an Cafés bzw. Nachmittagstreffs und Аktivitäten für Stadtteilbewohner*innen wurde als so vielfältig befunden, dass hierzu kontinuierliche und zielgruppengerechte Vermittlung von hoher Bedeutung ist und ausbaufähig scheint.
Die Veranstaltung konnte somit viele Potenziale und Anknüpfungspunkte zur Kooperation mit wissenschaftlicher Forschung aufzeigen. Diese werden u.a. in den weiteren Veranstaltungen der Vortragsreihe thematisiert und bieten Stoff für weitere Austauschformate und Kollaborationen.
Kontakt
Dr. Philipp Lottholz