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Georg Kolbe, Adagio

© Bildarchiv Foto Marburg

Georg Kolbe
(Waldheim 1877 – 1947 Berlin)
Adagio, 1923
Bronze, gegossen, Höhe 81 cm
Schenkung der Stadt Marburg 1927

ADAGIO

Weder eine heilige noch eine mythische Figur war Vorbild für das von Georg Kolbe 1923 geschaffene Kunstwerk. Die 81 cm hohe Bronze mit dem Titel „Adagio“ zeigt eine aufrecht stehende Frau mit vor der Brust übereinander gelegten Händen. Sie trägt ein bodenlanges Gewand, das ihre Schultern unbedeckt lässt. Der Name „Adagio“ – abgeleitet von der musikalischen Tempobezeichnung oder der Kompositionsform – deutet auf ein getragenes, ruhiges Arrangement hin. Dabei kann der italienische Begriff auch mit „bequem“ oder „behaglich“ übersetzt werden.

© Bildarchiv Foto Marburg

Bequem wirkt die Haltung der Frauenfigur nicht, deren Knie leicht gebeugt sind und deren Füße unsichtbar mit dem Sockel verwachsen zu sein scheinen. Vielmehr trifft hier die musikalische Bedeutung des Ruhevollen, Langsamen zu. Mit leicht zurückgenommenem Oberkörper und einem sanft gesenkten und etwas zur Seite gedrehten Kopf erscheint die Bronzeskulptur. Augen und Mund des zart stilisierten Gesichts sind geschlossen. Die Figur mit ihrer weichen Gestik wirkt friedlich, wenngleich durch den harten Faltenwurf des kubisch gebrochenen Gewandes ein Spannungsfeld zu dieser Grundstimmung entsteht.

Insgesamt entstanden circa 25 Güsse der Plastik. Am unteren Rand des Sockels ist der Prägestempel H. NOACK / BERLIN FRIEDENAU zu lesen. Es ist die gleiche Werkstatt, an die auch Käthe Kollwitz Aufträge vergab. Die Gießerei entwickelte speziell für Kolbe eine Abschreckmethode im Wasserbottich, die für eine sanft gesprenkelte Oberfläche sorgte. Die unregelmäßige Textur, die bei einer näheren Betrachtung wahrgenommen werden kann, ist ein charakteristisches Stilmerkmal des Künstlers.

Der Figurenbildhauer Georg Kolbe verstand es, die menschliche Gestalt in Posen der leichten Bewegung und des Übergangs darzustellen. Selten sind seine Modelle in stabilen Stellungen oder gar mit begleitenden Attributen dargestellt. Das macht die Auseinandersetzung mit seiner Kunst vielschichtig und lässt mehrere Lesarten der Plastiken zu. In seinen Werken spielt Musikalität und Empfindsamkeit eine große Rolle. Das Adagio als Kompositionsform meint eine langsame, traurige und zärtliche Musik ohne Verzierungen und Spielereien. Dem entsprechen die schnörkellose Darstellung und der Habitus der Figur, der als, gerührt, besinnlich, in sich gekehrt und fromm benannt werden kann.

Diese Frauenfigur Georg Kolbes ist eine der früh erworbenen Werke im Kunstmuseum. Kurz nach der Eröffnung 1927 erfolgte die Schenkung der Stadt Marburg. Das Werk harmoniert durch seinen zackigen Faltenwurf in besonderem Maße mit der Architektur des Gebäudes. Expressionistische Zacken finden sich im Museum an Leuchtern, Fenstern, Stuckaturen und anderen Details der Ausstattung. Der sogenannte Lütcke-Zacken – benannt nach dem Architekten Hubert Lütcke – ist charakteristisch für den Marburger Museumsbau.

Bei Kolbe waren der Einfluss des Expressionismus und die Umsetzung in seinen Plastiken vorübergehender Natur. Das Interesse an expressionistischer Malerei war für ihn durch Künstlerfreunde wie Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff entstanden. Ab 1920 fertigte er Skulpturen mit stereometrischen Formen und änderte ältere Entwürfe dem neuen Stil entsprechend. Zu diesem Wandel äußerte der Künstler sich 1924 wie folgt:

„Heute entstehen meine Arbeiten überhaupt nicht mehr vor der Natur … Ich bin dem Wesen des Plastischen näher gekommen, kann der Form an sich mehr Ausdruck geben.“

Kolbe erhoffte sich durch die Abwendung vom Naturbild und seiner Hinwendung zum expressionistischen Ausdruck ein tieferes Verständnis von Form und Gestaltung. Die kristalline Form, die im Expressionismus Ruhe und Konzentration ausdrückt und transzendentale Bedeutung haben kann, wird im Faltenwurf des langen Gewandes verwendet. Vielleicht können wir die Frau als fromme Andachtsfigur lesen, die ohne Namen oder andere Kennzeichen auskommt und dennoch eine religiöse Stimmung anklingen lässt.

Samira Idrisu