11.05.2023 Jetzt online: Zusammenfassung des Vortrags "Warum brauchen wir Gender-Perspektiven im Völkerstrafrecht?"

Foto: Rolf K. Wegst

Am 9. Mai 2023 ging unsere Ringvorlesung „Gender im Völkerstrafrecht“ mit einem Vortrag von Prof. Dr. Stefanie Bock, Geschäftsführende Direktorin des ICWC, in die nächste Runde. Nachdem der Eröffnungsvortrag von Inga Nüthen und Mariel Reiss am 25. April eine Einführung in die Genderthematik gegeben hatte, beschäftigte Rechtswissenschaftlerin Stefanie Bock dieses Mal die Frage „Warum brauchen wir Gender-Perspektiven im Völkerstrafrecht?“

Der Vortrag von Prof. Dr. Stefanie Bock auf YouTube

Unter diesem Link haben wir den vollständigen Vortrag „Warum brauchen wir Gender-Perspektiven im Völkerstrafrecht?“ von Prof. Dr. Stefanie Bock im Rahmen der Ringvorlesung "Gender im Völkerstrafrecht" auf YouTube hinterlegt.

Foto: ICWC

Professorin Bock erklärte in einem ersten Schritt, dass der Grundgedanke des Rechts darin bestehe, dass dieses neutral und damit unbeeinflusst von Faktoren wie dem Geschlecht sei. Dahinter stecke ein formelles Gleichheitsverständnis, demzufolge alle Menschen gleich und Diskriminierungen nach dem Geschlecht verboten sind, mit der Schlussfolgerung, dass Geschlecht keine juristisch relevante Kategorie sein könne. Diese Annahme unterliege jedoch der Gefahr eines normativen Fehlschlusses: Diskriminierungen des Geschlechts seien zwar rechtlich verboten, kämen aber rechtstatsächlich dennoch vor, was wiederum zur Folge habe, dass ein neutral formuliertes Recht, das in einer von Ungleichheiten geprägten Welt angewendet werde, zur Verstärkung der Ungleichheiten führen könne.

Die Legal Gender Studies hingegen betrachten Geschlecht als eine gesellschaftlich relevante Kategorie, welche auch das Recht beeinflusst, und kommen so zu dem Ergebnis, dass Recht ein Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist. Der Ansatzpunkt der Legal Gender Studies liegt also darin zu fragen, wo das Recht steht, wie es eingesetzt wird und wie es eingesetzt werden sollte. Für eine Analyse, auf welchen Ebenen Geschlecht eine Rolle spielt, müsse man, so Bock, die Dimensionen der gesellschaftlichen Konflikte, des (Völkerstraf-)Rechts und der Transitional Justice mit der Dimension des Geschlechts und untereinander verknüpfen.

Diese Verknüpfungen und wie Geschlechterkonzeptionen völkerstrafrechtliche Konflikte beeinflussen, zeigte Stefanie Bock sodann an zwei aktuellen Beispielen:

1) Die Frauenrechtsbewegung im Iran. Deren Anfang findet sich in der Festnahme und dem Tod einer Studentin, die von der iranischen Sittenpolizei verhaftet wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht regelkonform getragen haben soll. Ausgangspunkt sei also der Vorwurf einer geschlechtsspezifischen „Tat“, die die Studentin als Frau „beging“ und mit der sie gegen die mit ihrer sozialen Rolle als Frau verknüpften gesellschaftlichen Erwartungen verstoßen habe. Hieraus habe sich dann jedoch ein gesamtgesellschaftlicher Konflikt entwickelt, dessen zentraler Aspekt das Geschlechterverhältnis sei.

2) Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. In diesem Kontext seien, so Bock, bereits zu Beginn die klassischen Geschlechterrollen reaktiviert worden, indem Frauen und Kinder als die „zu Beschützenden“ ausreisen durften, während Männer als die „Beschützer“ zum Kämpfen im Land bleiben mussten. Dies berge jedoch u.a. die potentielle Gefahr, dass ukrainische Frauen in fremden Ländern und auf sich gestellt sexuellen Übergriffen ausgeliefert seien. Als Gegenvorschlag nannte Professorin Bock, dass man den Familien beispielsweise hätte erlauben können, die Kinder mit einem beliebigen Elternteil ausreisen zu lassen.

Diese Perspektive der Legal Gender Studies auf Geschlechterkonzeptionen im Völkerstrafrecht wird insbesondere in rechtsdogmatischer Hinsicht beim Tatbestand der Vergewaltigung und in rechtsprechender Hinsicht bei den Prozessen gegen IS-Rückkehrerinnen deutlich.

Stefanie Bock erläuterte zunächst die Genese des Tatbestands der Vergewaltigung und sexueller Gewalt im Kontext des humanitären Völkerrechts von den Anfängen der Anerkennung der Vergewaltigung als Straftat bis hin zu aktuellen genderneutrale(re)n Definitionen des IStGH. Zu Beginn – beispielsweise in der Haager Landkriegsordnung – wurde eine Vergewaltigung in erster Linie als Verletzung der Familienehre und nicht der Frau als Individuum angesehen. Anders sei dies bereits in der Genfer Konventionen gehandhabt worden, die die Frau zumindest als Individuum von der Straftat der Vergewaltigung betroffen sieht, Vergewaltigung jedoch weiterhin als ein Delikt gegen die Ehre betrachtet. Diese Perspektive führe jedoch lediglich zur Stigmatisierung der Opfer, die schlimmstenfalls von der Gemeinschaft verstoßen würden. Eine vielversprechendere Auseinandersetzung mit Vergewaltigung als Gewaltdelikt fände sich im Akayesu-Urteil des ICTR (1998). Hier habe sich eine Definition herausgebildet, welche auf die Merkmale eines invasiven Geschlechtsaktes und einer Zwangssituation abgestellt habe, ohne dabei auf das Geschlecht des Opfers einzugehen.

Dies waren die ersten Schritte für die heute vom IStGH verwendete Definition der Vergewaltigung, die zwar immer noch die Penetration als entscheidendes Merkmal anführt, den Tatbestand jedoch möglichst weit versteht und daher auch Männer und Transgenderpersonen als Opfer von Vergewaltigung anerkennt. Die Grenzen der Vergewaltigungsdefinition wurden auch in der anschließenden Fragerunde diskutiert: Ein Geschlechtsakt zwischen zwei Frauen könne auf den ersten Blick aufgrund mangelnder Penetration den Straftatbestand der Vergewaltigung nicht erfüllen, aber aufgrund der Ausdifferenzierung der Sexualstraftaten in Art. 7 Rom-Statut dennoch als sexuelles Gewaltdelikt erfasst werden. Ein praktisches Problem des Straftatbestandes der Vergewaltigung liege außerdem darin, dass sich Frauen in den meisten Fällen wünschten, dass die gegen sie gerichtete Gewalt als eine Sexualstraftat erfasst wird, wohingegen männliche Opfer das „Label“ der Sexualstraftat eher ablehnten und die erfahrene Gewalt oftmals lieber als Folter definiert sähen. Auch zu diesem Aspekt zeigte sich das Publikum diskussionsfreudig: Sollte es beim „Labeling“ der (Sexual-)Straftaten mehr auf den Unrechtsgehalt als solchen oder auf eine genderneutrale, einheitliche Rechtsanwendung ankommen?

Eine weitere Herausforderung für das Völkerstrafrecht zeige sich in den seit 2018 verstärkt geführten Gerichtsprozessen gegen IS-Rückkehrerinnen, erklärte Stefanie Bock. Im Zentrum stehe hier der Straftatbestand des §129a StGB (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) und die Frage, ob bereits das Leben im Kalifat i.S.v. Haushaltsführung, Reproduktion und Kindererziehung diesen Straftatbestand erfülle. Die aktuelle Rechtsprechung in diesen Fällen fordere ein „Mehr“: Dieses könne darin liegen, inwieweit die Frau die Entscheidung zur Ausreise mitbeeinflusst habe, ob sie im Umgang mit einer Waffe geschult worden sei oder an einem Scharia-Kurs teilgenommen habe. In diesem Zusammenhang wurde im Anschluss und auch in Anknüpfung an den ersten Vortrag diskutiert, inwieweit Intersektionalität eine Rolle im Völkerstrafrecht spiele, denn gerade bei den IS-Rückkehrerinnen wirkten ihr kultureller Hintergrund und das Geschlecht eng zusammen. Stefanie Bock konstatierte, dass sich das Völker(straf-)recht zwar in bestimmten Bereichen wie der Istanbul-Konvention punktuell mit Intersektionalität befasse, jedoch nicht, wie von den Legal Gender Studies angestrebt, als Gesamtanalyse.

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Abschließend ist festzuhalten, dass Rechtswissenschaftlerin Stefanie Bock mit ihrem Vortrag neue Perspektiven auf die Bedeutung von Gender für das Völkerstrafrecht aufgezeigt hat, die sich anhand aktueller Beispiele nachvollziehen lassen. Gleichzeitig hat sie weitere Fragestellungen in diesem Bereich angeregt, die uns in den kommenden Wochen im Rahmen unserer Vorlesungsreihe beschäftigen werden. Damit bedanken wir uns ganz herzlich bei unserer Referentin Stefanie Bock für ihren gelungenen Beitrag sowie bei den zahlreich erschienenen und diskussionsfreudigen Zuhörer:innen.

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