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Jahresfeier 2019 | 12. Marburger Vorlesung zum Völkerstrafrecht mit Prof. Dr. Sabine Andresen

Foto: Henrik v. Richthofen
Die Jahresfeier 2019 des Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) fand am 5. Dezember in der historischen Aula der Alten Universität statt. Ergänzt wurde sie durch die 12. Marburger Vorlesung zum Völkerstrafrecht, welche von Prof. Dr. Sabine Andresen zum Thema "Gesellschaftliche Aufarbeitung von Unrecht gegen Kinder und Gerechtigkeit" gehalten wurde und von den Erfahrungen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland berichtete.

Die Jahresfeier begann mit der Begrüßung durch die Geschäftsführende Direktorin des ICWC Frau Prof. Dr. Bock und Grußworten des Vizepräsidenten für Informationsmanagement Prof Dr. Thomas Nauss und dem Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften Prof. Dr. Jens Puschke. Frau Prof. Dr. Bock stellte anschließend den Tätigkeitsbericht des Zentrums für den Zeitraum 2018 - 2019 vor. Nach der Vorstellung der Arbeit des ICWC wurden die Zertifikate für die erfolgreiche Teilnahme am Trial-Monitoring Programm vergeben. Im Anschluss daran hielt Frau Prof. Dr. Sabine Andresen die Vorlesung zum Völkerstrafrecht. Das Kurzprotokol hierzu finden Sie untenstehend.

Für Prof. Dr. Sabine Andresen, Professorin für Familienforschung und Sozialpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt sowie seit Januar 2016 Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, kam die Einladung zur 12. Marburger Vorlesung zum Völkerstrafrecht im Rahmen der Jahresfeier des ICWC einer Überraschung gleich. Wie passt das Aufgabengebiet der Kommission zu demjenigen des ICWC? Gegliedert in sieben Punkte, versuchte sie in ihrem Vortrag über die Beantwortung der Fragen nach der gesellschaftlichen Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, der Rolle dieser für die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und des Erkenntnisgewinns der Erinnerungen Betroffener aus einer kindheits- und erziehungstheoretischen Perspektive heraus die Brücke zur Thematik der Vortragsreihe zu schlagen – mit Erfolg.

Foto: Henrik v. Richthofen

Den Vortrag einleitend und das Problemfeld präzisierend definierte sie im ersten Punkt, “Unrecht in der Kindheit”, den Leitsatz der Kommission: man müsse dem Besonderen des Kindes als Kind wie auch dem Allgemeinen des Kindes als Menschen gerecht werden. Das bedeutet eine Verbindung von Kinderrechten mit Kinderschutz sowie von Fürsorge mit Autonomie, mithin das Recht auf gewaltfreie Erziehung, wie es auch seit 2000 festgeschrieben ist. Jedoch steht die Auseinandersetzung mit Unrecht in der Kindheit vor spezifischen Herausforderungen, von denen die besondere Abhängigkeit der Kinder von ihren Bezugspersonen, ihre fehlenden Wahlmöglichkeiten über ihr gesellschaftliches Umfeld sowie das lange Zeit fehlende Wissen über die Vulnerabilität der Kinder als Kinder nur einige sind.

Diese Herausforderungen sind die Basis, auf der im zweiten Punkt, “Ordnung der Diskurse über sexuellen Kindesmissbrauch”, über die Genese der Debatte als Spannungsfeld zwischen Tabuisierung und kollektivem Wissen referiert wurde. So werde Gewalt gegen Kinder zwar einerseits universell verdammt, etwa durch die Paragraphen 174 und 176 StGB, doch stelle sich nach wie vor die von Foucault popularisierte Frage des Willens zur Wahrheit. Will die Öffentlichkeit überhaupt über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern informiert sein? Anhand schlaglichtartig vorgetragener Zäsuren belegte Andresen hier die schrittweise Ausweitung gesellschaftlichen Umgangs mit dieser Problematik. Wurden 1984, angestoßen von den beiden Autorinnen Kavemann und Lohstöter, die Väter als Täter in den Blick genommen, so zeitigte das Jahr 1999 mit der Aufdeckung des Skandals über den sexuellen Missbrauch in der Odenwaldschule das Ende des Topos des sicheren Raumes Schule. Zugleich offenbarte sich in diesem Zusammenhang massiver öffentlicher Widerstand; schließlich sei doch nicht klar, ob man den Berichten der Betroffenen Glauben schenken könne, es könne sich schließlich auch um eine Verleumdungskampagne handeln. Erst ab 2010 setzte mit dem Rücktritt des Vorstands der Odenwaldschule eine Entwicklung ein, die 2016 mit der Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs einen vorläufigen Höhepunkt fand: es wird begonnen, Betroffenen zuzuhören.

Dieses Zuhören oder “Zeitzeugenschaft und Doing History” im dritten Punkt des Vortrags erfordere die Zusammenarbeit verschiedener “Chronisten sexueller Gewalt”, sei es von Betroffenen, Aktivisten, Autoren oder Politikern. Die so entstehenden Narrative der Gewalt formen dann Geschichte und bieten die Grundlage für die Anerkennung der Betroffenen.

Im vierten Punkt wurde die in diesen Bereich zu verortende Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs näher erläutert. So werde unter anderem durch vertrauliche Anhörungen, Gespräche und die Sichtung und Auswertung schriftlicher Berichte Betroffener versucht, die Öffentlichkeit für die lange Tabu gebliebene Thematik zu sensibilisieren. Themenschwerpunkte sind dabei beispielsweise die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs innerhalb der DDR, der Kirche, im Sport und insbesondere im lange Zeit unbeachtet gebliebenen familiären Kontext.  Dabei ist die Kommission bei einem Jahresbudget von rund 1,4 Millionen Euro vollkommen ehrenamtlich organisiert. Dem Format der öffentlichen Anhörung kommt dabei für die Betroffenen eine besondere Bedeutung zu, vermag es dieses doch, ihrem Leiden einen subjektiven Sinn zu geben – mit Erfolg: seit Mai 2006 haben sich mehr als 1700 Menschen für eine Anhörung angemeldet.

Punkt fünf und sechs schließlich, “Transitional Justice. Fragen und Anschlüsse” und “Aufarbeitung und Gewaltforschung spannen den Bogen zum ICWC, ist Transitional Justice doch ein Kernthema bei der Beschäftigung mit Kriegsverbrecherprozessen. Fragen nach Herstellung von Gerechtigkeit, Wahrheitsfindung, der Möglichkeit einer Wiedergutmachung und Garantien gegen Wiederholung sind Themenkomplexe, die auch das Völkerstrafrecht berühren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Familie als privater Raum bisher international noch zu wenig Beachtung geschenkt wird; so gibt es nach wie vor keine auf Aufarbeitung gerichtete Form der Geschichte der Familie. Dieses Problem eine Facette der öffentlichen Thematisierung von sexuellem Kindesmissbrauch, die trotz der aktuell vorhandenen Aufmerksamkeit nach wie vor an die Grenzen des Denk- und Aussprechbaren stößt und oft bei der Frage, wie “so etwas” überhaupt möglich sei, verbleibt. Die Rolle der Frau bzw. Mütter in diesem Kontext wird in diesem Zusammenhang als besonders großes Tabu eingeführt, was sich nahtlos an die im ICWC besprochenen Fälle anknüpfen ließe.

Mit den “Grenzen und Potenzial der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs” schließt Andresen schließlich ihren Vortrag. So könne Aufarbeitung in keinem Fall die juristische Aufklärung ersetzen, es bestehe aufgrund des langwierigen Prozesses ein hohes Enttäuschungspotenzial bei den Betroffenen und die Überwindung der Dichotomie von Tätern und Opfern sei nach wie vor schwierig. Die Arbeit der Kommission werde zudem häufig ausschließlich über ihre präventive Wirkung legitimiert; dabei sei Aufarbeitung auch ein Wert an sich. Das Potenzial der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs sieht Andresen dagegen vornehmlich in der Aufmerksamkeit für die individuellen Biographien Betroffener, die wachsende Bedeutung dieser öffentlichen Aufmerksamkeit für Gewaltphänomene und deren Kommunikation und schließlich in den solchermaßen gewonnenen Erkenntnissen über die soziale Position des Kindes und über das Verhältnis von Gewalt und Erziehung.