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Mathematik als Erkenntnistheorie

Das System mathematischer Wissenschaften in Platons ‚Politeia’ und seine Wirkungsgeschichte

Platon entwirft in den Büchern V-VII seiner ‚Politeia’ ein System mathematischer Wissenschaften. Gegenstand dieser Wissenschaften ist ein ‚koinon mathema‘, ein ‚gemeinsames Wissen’, das in jeder Wissenschaft und Technik beachtet werden müsse, wenn ihre Gegenstände den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit sollen erheben können. Dieses gemeinsame Wissen leitet sich nach Platon aus der axiomatischen Grundforderung der Rationalität ab, dass jeder Gegenstand des Wissens Einheit und Bestimmtheit aufweisen muss. Die Mathematik als Lehre von den unterschiedlichen, rein begrifflichen Synthesebedingungen, wie ‚Mannigfaltiges’ auf diskrete oder kontinuierliche Weise zu einer Einheit verbunden werden kann, erfüllt für ihn auf reine und exakte Weise dieses Axiom der Rationalität.

Mit der doppelten Zielsetzung: 1) Reflexion des Denkens auf sich selbst und 2) methodische Grundlage jeder Art theoretischen wie technischen Wissens zu sein, hatte dieser Platonische Text eine außergewöhnlich breite und außergewöhnlich lange Wirkungsgeschichte. Seit der Renaissance des Platonismus etwa um 200 nach Christus wurde diese ‚communis mathematica scientia’ zum wissenschaftstheoretischen Teil der Ausbildung in den ‚Sieben freien Künsten’. Als ‚studium generale’ wurde es über den Zusammenbruch des römischen Reiches hinweg vom arabischen Osten bis in den lateinischen Westen trotz des Unterschieds vieler politischer, kultureller und religiöser Systeme Grundlage jeder wissenschaftlichen Spezialisierung.

Weder die erkenntnistheoretische Zielsetzung aber, die Platon erfüllen möchte, noch die Aufgabe, wissenschaftstheoretische Grundlage zu sein, wurden in der bisherigen Forschung zureichend beachtet. Man traut der Antike keine ‚eigentliche’ Erkenntnistheorie zu und man hält die Mathematik der ‚artes’ für elementar. Beide Vorurteile sind angesichts einer großen Zahl einschlägiger, aber kaum oder gar nicht ausgewerteter Texte widerlegbar: Die ‚Elementarität’ dieser Mathematik beruht ähnlich wie in der modernen Mengenlehre auf ihrem wissenschaftstheoretischen Grundlagencharakter, der scheinbare Mangel an Reflexion auf einem eigenständigen, anderen Begriff von Denken. Die erstaunliche Leistungsfähigkeit dieses antiken Wissenschaftskonzepts habe ich in mehreren Forschungsprojekten seit Jahren verfolgt. Hauptcharakteristikum ist eine große Elastizität, die in christlichen, jüdischen und islamischen Kulturkreisen erkannt wurde und die eine effektive Verständigung zwischen Orient und Okzident möglich gemacht hatte. Wichtig ist, dass dieses Konzept ein integrales, emotionale und praktische Seiten umfassendes Bildungssystem hervorgebracht hat, das die epistemischen mit den ethischen, politischen, ästhetischen Kulturaktivitäten verbunden hat. Die Grundlage für dieses System hat Platon in den mittleren Büchern seiner ‚Politeia’ geschaffen. Sie kann nur unter Berücksichtigung der breiten Wirkung, die von ihr ausgegangen ist und in interdisziplinärer Vernetzung des Fächerkreises, der sich auf sie stützt, adäquat verstanden werden. Dieser wichtigen, aber in der Forschung noch kaum in Angriff genommenen Aufgabe möchte ich mich stellen.

Darstellung des Vorhabens mit Angebung zur Zielsetzung und Begründung:

Das platonische Wissenschaftssystem: Zur Diskrepanz zwischen der Rezeption in Antike und Mittelalter und dem modernen Forschungsinteresse

Die mittleren Bücher der Platonischen 'Politeia' enthalten eine Reihe der berühmtesten Lehrstücke der platonischen Philosophie: die Unterscheidung von Meinung und Wissen, die Forderung der sog. Philosophenherrschaft, die drei großen Gleichnisse (Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis) und im Anschluss daran die Entwicklung eines ‚mathematischen’ Wissenschaftssystems, das in der Darlegung der 'Dialektik' als Höhepunkt und Grundlage des ganzen Systems endet. Obwohl Platon mehrfach und nachdrücklich darauf hinweist, dass alle vorbereitenden und gleichnishaften Darlegungen das Ziel haben, auf dieses Wissenschaftssystem hinzuführen und zu seiner Erklärung beizutragen, konzentriert sich die Forschung mit großem Übergewicht auf die Interpretation der vorbereitenden Passagen und beschränkt sich bei der Behandlung des Wissenschaftssystems auf eher knappe Beschreibungen. Die selteneren ausführlichen interpretierenden Deutungen sind meist kritischer Natur.

Dieses Vorgehen steht in einem auffälligen Gegensatz zur Rezeption dieses Wissenschaftsprogramms in der Antike. Nicht nur viele Mathematiker berufen sich auf es, seit dem Ende der skeptischen Phase der Akademie wurde es zur Grundlage des Ausbildungskonzepts des Philosophieunterrichts beinahe der gesamten Spätantike .
Es endete auch nicht mit der geschichtlichen Schließung der Akademie in Athen. Die Gründung des Klosters Monte Cassino durch Benedikt im Jahr 529 bedeutete nicht einen Paradigmenwechsel, wie oft behauptet wird, in dem die platonische Zeit der Antike vom Christentum abgelöst wurde. Im Gegenteil: der Auszug der Platoniker aus der Akademie bewirkte eine immense Verbreitung ihres auf Platon (und zur Einführung auf Aristoteles) gestützten Wissenschaftskonzepts in syrisch-persisch-arabisch-jüdische Kulturkreise, über die viel verlorenes Lehrgut später in den lateinischen Westen zurückfloss.

Diese enorme Verbreitung platonischen Gedankenguts über ganz verschiedene Kulturräume und über Geschichtsepochen, die durch Brüche und große Divergenzen voneinander unterschieden waren, verweist auf eine erstaunliche innere Elastizität dieses Wissenschaftssystems. Diese Offenheit zeigt sich auch daran, dass es nicht nur über mindestens tausend Jahre (von 200 bis 1300 n.Chr.) den Aristotelismus integrieren konnte (der Aristotelismus der Spätantike und des Mittelalters ist ein neuplatonischer Aristotelismus), es bildete auch innerhalb der einzelnen Kulturen das verbindende und die Einheit erklärende Band ihres geordneten Zusammenhalts. Außerdem ermöglichte es auch über Jahrhunderte eine Religionsbrücke zwischen Antike, Christentum, Islam und Judentum, die erst mit der beginnenden Neuzeit und der Ausbildung eines neuen Rationalitäts- und Wissenschaftsverständnisses einbrach.

Die Bedeutung dieser außergewöhnlich breiten und langen Wirkungsgeschichte ermisst sich auch daran, dass sich neben den Mathematikern nicht nur die großen Philosophen der ‚heidnischen’ Spätantike auf es gestützt haben, auch die großen islamischen Philosophen (v.a. alFarabi, Avicenna, Averroes) haben trotz vieler anderer Rezeptionsmöglichkeiten gerade dieses System zur Grundlage ihrer eigenen Forschungen gemacht ebenso wie die meisten christlichen Scholastiker des lateinischen Westens (von Johannes Scotus Eriugena bis zu Albertus Magnus und Thomas von Aquin).

Allein dieses große, aus so vielen verschiedenen Quellen gespeiste Interesse an Platons ‚communis mathematica scientia’ macht es zu einem dringenden Forschungsdesiderat, den Gründen nachzugehen, die dieses Wissenschaftsprogramm so attraktiv gemacht haben, und am Platonischen Text selbst zu überprüfen, wie weit die von ihm ausgegangene Wirkung in ihm selbst bereits angelegt ist und ob nicht auch der Text selbst von dieser Wirkung her in einer anderen und vielleicht zutreffenderen Perspektive zu lesen ist als vom Standpunkt eines neuzeitlichen Mathematikverständnisses oder eines nachcartesianischen Vernunftbegriffs.

Die mathematischen Wissenschaften als reflexive Entfaltung der Unterscheidungskriterien des Denkens selbst

Bringt man die Haupttendenzen der Rezeption der später in das System der ‚artes liberales’ integrierten ‚mathematischen Universalwissenschaft’ Platons auf eine knappe Formel, dann ist es die Reflexion des Denkens auf seine Urteilskriterien und die auf diese Kriterien gestützte Entfaltung einer Theorie der Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft, die immer wieder den Ausgangs- und Zielpunkt der Rezeption gebildet haben.
Tatsächlich entspricht diese Tendenz auch der ausdrücklichen Zielsetzung, die Platon selbst in der ‚Politeia’ angegeben hat. Es geht ihm um die Frage, ob es bei allem, was man erkennend, handelnd oder technisch produzierend tut, Kriterien gibt, die ausmachen, dass man dabei rational und nicht mehr oder weniger beliebig verfährt. Solche Kriterien wenden alle ständig irgendwie an, wie Platon sagt, nur wenige aber wissen, worin eigentlich das Rationale an einem rationalen Handeln besteht, und können diese Kriterien daher nicht methodisch selbständig, sondern nur in zufälliger Intuition gebrauchen (Politeia 522c-523a).

Ein solches Wissen, in dem sich die Vernunft über ihre eigenen Akte aufklärt, nennt Platon an dieser Stelle ein ‚koinón máthema’, ein allen gemeinsames Wissen, die Disziplin, die dieses Wissen reflexiv ermittelt, eine ‚koiné mathematiké epistéme’, eine, wie die Lateiner übersetzt haben, ‚communis mathematica scientia’ oder eine ‚mathesis universalis’. ‚Mathematiké’ heißt auf Griechisch ‚zum Wissen gehörig’ und nicht nur ‚mathematisch’. Platon war aber in der Tat überzeugt, dass die Grundwissenschaft, die er suchte, eine mathematische Wissenschaft war. Über dem Eingang der Akademie soll deshalb gestanden haben: ‚Keiner, der nicht mathematisch gebildet ist, soll hier eintreten’. Die Mathematik, die Platon meint, ist freilich nicht eine Wissenschaft von homogenen Quantitäten . Dieses Mathematikverständnis ist selbst ein geschichtliches Produkt, dessen Entstehung (v.a. bei Vieta, Stevin und Descartes) unmittelbar mit der Destruktion des platonischen Rationalitätsbegriffs zu Beginn der Neuzeit verbunden ist. Die platonische Mathematik ist aber auch keine Zahlenmystik, auch wenn dieses Vorurteil immer noch weite Verbreitung hat. Platon beruft sich vielmehr auch an dieser Stelle der ‚Politeia’ auf den von ihm vielfach geführten Nachweis, dass man etwas nicht denken kann, wenn es nicht mit sich identisch und von anderem unterschieden ist. Identifizierbarkeit und Unterscheidbarkeit sind für ihn daher Grundforderungen des Denkens an seine (nicht die äußeren) Gegenstände, Denken ist seinem primären Akt nach ein Unterscheiden (‚krinein’) .

Die großartige und folgenreiche Entdeckung Platons war, dass man durch die Reflexion auf die Bedingungen, die es dem Denken möglich machen, seine ihm eigene Leistung, das Unterscheiden, auszuführen, ein ganzes, in sich strukturiertes und hoch differenziertes Wissenschaftssystem erschließen kann, und dass dabei zuerst die Begriffsbedingungen mathematischer Gegenstände aufgedeckt werden . Wenn man fragt, an welchen Kriterien man prüft, ob sich etwas unterscheiden lässt, dann wird nach Platon klar, dass man etwas nicht unterscheiden kann, wenn es nicht ein Eines ist, das mit sich identisch, von anderen verschieden ist, das ein Ganzes ist, das Teile hat, die alle als Teile dieses Ganzen einander gleich, gegeneinander aber verschieden, also ähnlich sind, usw., usw.. Einheit, Identität, Verschiedenheit, Ganzheit, Teil, Gleichheit, Ähnlichkeit, Diskretheit, Kontinuität, Anfang, Mitte, Ende usw. sind also Kriterien, an denen man sich unbemerkt oder ausdrücklich bei jedem Erkennen orientiert. Wer einen Ton hören will, muss bemerken, wodurch er ein Ton ist, d.h. er muss ihn in seiner Identität gegen von ihm verschiedene Töne abgrenzen, muss darauf achten, wann er anfängt, wie lange er gleich bleibt, wann er aufhört, usw. In der Mathematik tut man grundsätzlich das Gleiche, aber man untersucht nicht, ob irgendetwas identisch ist, sondern was Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit usw. sind, d.h., was zu ihrem Begriff gehört.

Die platonische Mathematik ist daher sowohl eine besondere wie ein allgemeine Wissenschaft. Für sich besteht sie in einer Analyse der Begriffsbedingungen möglicher Einheiten überhaupt, als allgemeine Wissenschaft ist sie Anwendung dieser Einheitskriterien auf alle möglichen Erkenntnisgegenstände .
Entgegen einem immer noch verbreiteten Vorurteil ist das Zentrum der platonischen Philosophie nicht eine Schau jenseitiger Ideen, sondern eine Reflexion des Denkens auf sich selbst. Auf dieses Ziel hin war der Unterricht in der Akademie von Anfang an ausgerichtet. Im Kreis der Wissenschaften der sogenannten sieben ‚Freien Künste’ (‚artes liberales) bildeten die Inhalte dieses Unterrichts die Grundlage des Universitätsstudiums bis ins ausgehende Mittelalter und, wenn auch mit gewichtigen Änderungen, partiell sogar noch bis ins 18. Jahrhundert.

Der Wandel des Rationalitätsbegriffs zu Beginn der Neuzeit und seine Folgen für einen hermeneutisch adäquaten Zugang zu Platon

Zu Beginn der Neuzeit entwickelten sich philosophische Ansätze mit einem radikal neuen Begriff von Denken. Denken wurde als Repräsentation der (äußeren) Wirklichkeit verstanden . Die Gliederung des Wissens kam jetzt von den Bereichen, auf die das Denken angewendet wurde – mit der Folge immer neuer ‚Ausdifferenzierungen’ und Spezialisierungen. Ein systematisches Band der Wissenschaften untereinander erscheint bis heute als Relikt einer dogmatisch naiven (‚mittelalterlichen’) Philosophie.

Die Frage kann aber gestellt werden und sie muss auch gestellt werden, weshalb von diesem neuen Begriff von Denken aus die platonische Philosophie als eine spekulative Seinsphilosophie beurteilt wurde, die eine Reflexion des Denkens auf sich selbst (als auf die Bedingung der Möglichkeit jeder Art von Erkenntnis) noch gar nicht als Aufgabe erkannt hatte.

Geht man von Platon aus, ist die Grundhandlung, die das Denken ausführt, ein Unterscheidungsakt. Man sucht mit Hilfe der reflexiv ermittelten Kriterien des Unterscheidens etwas zu erfassen, was zu einer einheitlich unterscheidbaren Sache zusammengehört. Daraus ergibt sich eine Kritik an einem Denken, das sich allein auf die Empirie stützen will. Keine Gegenstandseinheit, die man beobachten oder mit den anderen Wahrnehmungen erfassen kann, lässt sich als eine für sich unterscheidbare Sacheinheit festhalten. Platons beliebtes, weil sehr einfaches, aber aussagekräftiges Beispiel ist der Kreis. Das, was man von einem Kreis im Sand, auf der Wachstafel, aus Erz mit Sinn und Verstand erkennen kann, lässt sich nicht in einem Begriff vereinen. Man braucht mindestens zwei Begriffe, etwa einen Begriff von Sand und einen von Kreis, um dem einen Begriff die braune Farbe, die vielen kleinen Körner, dem anderen die geschlossene, einförmige Linie, usw. zuzuordnen. Und man versteht das Ganze nur als Verbindung, als Zusammensetzung, Synthese aus beiden für sich unterschiedenen Sacheinheiten. Tut man dies nicht, sondern nimmt die gegebene Gegenstandseinheit als Sacheinheit, gerät man in Widersprüche, weil dann ein und dieselbe ‚Sache’ sowohl aus vielen kleinen Teilen wie aus einer kontinuierlichen Linie gebildet erscheint, usw.

In seinem Dialog ‚Theätet’ versucht Platon zu zeigen, dass alle grundsätzlichen skeptischen Einwände (v.a. des Sophisten Protagoras) gegen die Möglichkeit von Erkenntnis auf der Verwechslung von Vorstellung und Wahrnehmung bzw. begrifflichem Denken beruhen (Theaitetos 151eff.), und Aristoteles pflichtet ihm in seiner Metaphysik bei (Metaphysik 1009a6fff. V.a. 1010b3). Denn mit der Vorstellung bezieht man sich auf den ganzen, der Wahrnehmung gegebenen Gegenstand. Die Richtigkeit der Erkenntnis scheint dann von der möglichst vollständigen und unverfälschten Repräsentation des äußeren Gegenstands in der inneren Welt der Vorstellung abzuhängen. Die um 300 vor Christus sich entwickelnde Philosophenschule der Stoa vertrat genau dieses Erkenntnisideal: ein Gegenstand galt ihr dann als objektiv erkannt, wenn er in der Vorstellung genauso, wie er real existiert, klar und deutlich wiedergegeben war. Die Widersprüche und Ausweglosigkeiten, in die man mit dieser Position gerät, hat die beinahe zugleich mit der Stoa entstehende Skepsis an einer Unzahl von Beispielen demonstriert und die alte Position des Protagoras erneuert: Wir stellen die Welt nicht vor, wie sie ist, sondern auch mit den klarsten und deutlichsten Vorstellungen nur so, wie sie uns – unter bestimmten Umständen, in bestimmter subjektiver Verfassung, usw. – erscheint.

Schon die antike, v.a. skeptisch beeinflusste Philosophiegeschichtsschreibung hat die platonischen Ideen mit den klaren und deutlichen (‚kataleptischen’) Vorstellungsbildern der Stoa gleichgesetzt und Platon mit der Stoa eines naiven Dogmatismus bezichtigt. Die Philosophie der Frühen Neuzeit hat sich nach einer mehr als tausendjährigen Phase neuplatonisch-aristotelischen Denkens ausdrücklich auf die hellenistischen Philosophenschulen zurückbezogen und mit ihnen die Vorstellung (die auch nach Aristoteles alle unsere Denkakte begleite, so etwa Pomponazzi ) wieder zum führenden und primären Erkenntnisorgan erklärt. Aus den klaren und deutlichen Vorstellungen wurde in der Aufklärungsphilosophie bei Christian Wolff das ‚Bewusstsein’.
Reflektiert man vom Standpunkt des Bewusstseins aus auf den Grundakt des ‚Denkens’, dann sind es die ‚Modi des Bewusstseins’, die Art und Weise, wie uns auf Grund der Bedingungen der Vorstellungskraft die Dinge erscheinen, die diesen Akt ausmachen. Nur diesen Bedingungen hat Platon keine reflexiv kritische Analyse gewidmet.

Aufgabenstellung der geplanten Monographie zur platonischen ‚Communis mathematica scientia’

Der knappe Überblick über die Begründungsstrategien der platonischen ‚Universalmathematik’, ihrer breiten Wirkung in Antike und Mittelalter und der Probleme ihrer Rezeption in Neuzeit und Moderne macht bereits deutlich, dass ein hermeneutisch angemessener Zugang und eine der historischen Besonderheit und Bedeutung des Platonischen Wissenschaftskonzepts gerecht werdende Erklärung eine komplexe Aufgabenstellung ist, die insbesondere die longue durée in Antike und Mittelalter wie den epochalen Bruch in der Frühen Neuzeit einbeziehen muss, um die perspektivische Verzerrung des Urteils kontrolliert verkleinern zu können. Die Besonderheit des Platonischen Begriffs des Denkens bringt es zudem mit sich, dass Denken für ihn kein rein ‚rationaler’ Begriff (in einem nachcartesianischen Sinn) ist, sondern von sich her eminente emotionale und voluntative Bedeutung hat . Dies erst erklärt die Tatsache, dass Platon selbst von seinem Wissenschaftskonzept behaupten kann, es gelte nicht nur für die Wissenschaft, sondern für jede Art von Ordnung unter menschlichen Aktivitäten.

Die Arbeit an diesem Problemkomplex muss nicht von vorne anfangen. Seit vielen Jahren habe ich in eigenen Forschungen und in mehreren großen gemeinsamen Forschungsprojekten mit Kollegen und Schülern eine große Zahl einschlägiger Probleme behandelt: das Verhältnis der platonischen zur cartesianischen Erkenntnistheorie , das Verhältnis Platons zum Empirismus , die theoretische Grundlegung einer Zahltheorie im Platonismus , das platonisch-neuplatonische Geometrie - und Musikkonzept , die ethische und ästhetische Bedeutung des platonischen Rationalitätsbegriffs , den Wandel von der platonisch aristotelischen Auslegung des Denkaktes als eines Unterscheidungsaktes zur Deutung des Denkens als einer Form ‚mentaler Repräsentation’ im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit , den Wandel des Universalienbegriffs von der Spätantike zur Neuzeit , die Bedeutung des Rezeptionswandels vom neuplatonischen Aristotelismus des Hochmittelalters zur Neurezeption von Stoa, Skepsis und Epikur in der Renaissance ; den Weg von der Artes- Universität zu den Natur- und Geisteswissenschaften der Gegenwart , u.ä.m.

Alle diese Arbeiten setzen sich ausführlich mit der jeweils einschlägigen Forschung auseinander. Die Forschungsliteratur zu Platon ist inzwischen von einem einzelnen nicht mehr überschaubar. Nach langjähriger Beschäftigung mit dieser Literatur glaube ich sagen zu können, dass die von mir skizzierten Auslegungsdesiderate nicht systematisch, oft nicht einmal marginal erfüllt worden sind. In diesem Sinn bearbeitet das Forschungsprojekt, das ich in Angriff nehmen möchte, Neuland.

Der Gewinn, den man von diesem Projekt erwarten kann, ist vielfältig und vielfach bedeutend.
Es wird mit diesem Buch zum ersten Mal eine systematische, die erkenntnistheoretische Begründung analysierende Behandlung des Platonischen Wissenschaftssystems in seiner inneren Hierarchie vorliegen. Dadurch ist eine wichtige, unverzichtbare Basis geschaffen, von der aus die enorme Wirkungsgeschichte dieses Systems zureichender als bisher verstanden werden kann. Eine besonders wichtige Frage, der ich intensiv nachzugehen versuchen werden, ist die Frage nach den Bedingungen, die die Übertragung dieses Systems in kulturell, historisch und religiös so verschiedene Bereiche wie das spätantike römische Reich im Westen und Osten, das syrische Christentum, die persisch- arabisch -jüdischen Kulturen und Religionen bis in lateinische Mittelalter Westeuropas möglich gemacht haben. Der methodische Weg, über den diese von einem Einzelnen nicht zu leistende Aufgabe in einem basalen Sinn erfüllt werden soll, ist die Detailanalyse des Aufbaus des ‚Quadriviums’ im System der ‚Freien Künste’ und die Verfolgung der Funktion, die diesem ‚Vierweg’ der mathematischen Wissenschaften in verschiedenen Unterrichts- und Forschungssystemen zugedacht war. Nur unter Berücksichtigung wichtiger Traditionslinien dieses Systems kann auch das Potential, das Platon in seiner ‚Politeia’ angelegt hat, erschlossen werden.