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Kulturhistorischer Kontext der frühen Fotografie im Nahen Osten

Bereits 1839, also kurz nach ihrer Erfindung, fand die Daguerreotypie Eingang in die Kultur des Osmanischen Reiches. Zu den ersten Anwendern gehörten vor allem Archäologen, Maler und Architekten, aber auch Reisende aus dem Westen. Im kosmopolitischen Stadtteil Pera des heutigen Istanbul ließen sich in den 1840er Jahren die ersten ausländischen Daguerreotypisten nieder und boten vor allem Portraitfotografien an – zunächst auf der Straße, bald auch in eigenen Ateliers. Zu ihren Kunden gehörten, trotz des islamischen Bildverbotes, neben europäischen Reisenden binnen kurzer Zeit auch Einheimische. Waren es zu Beginn überwiegend Mitglieder der Oberschicht, die sich in den neuen Ateliers portraitieren ließen, wurde es bald auch für breitere Bevölkerungsschichten erstrebenswert, Familienportraits mit repräsentativem Atelierhintergrund und Staffage erstellen zu lassen.

Die ersten muslimischen Fotografen waren überwiegend Staatsbeamte und Offiziere, die an der Militärakademie ihre fotografische Ausbildung erhalten hatten. Viele von ihnen arbeiteten für den Sultan, der mittels fotografischer Dokumentationen stets auf den aktuellen Informationsstand über die Fortschritte in seinem Reich gebracht werden wollte. Abdulhamid II. (1876-1909) unterhielt ein ganzes Netz von Fotografen, Informanten und Agenten. Weit über 33.000 Fotografien ließ er in seinem privaten Fotostudio entwickeln und insgesamt um die 800 Fotoalben produzieren. 51 dieser Alben versandte er 1893/1894 als Geschenk an Bibliotheken in Großbritannien und den USA. Ausgewählte Fotografen aus dem heutigen Istanbul, etwa das Fotostudio Sébah & Joaillier und die zum Islam konvertierten Biraderler Brüder, die als Abdullah Frères firmierten und seit 1862 Hoffotografen des Sultans waren, reisten durch das Land und fotografierten neben topografischen Ansichten auch Marine- und Militärinstitutionen. Es handelte sich hierbei wohl um eine politische Geste, mit der der Sultan westlicher Kritik zum Trotz die Fortschrittlichkeit des Osmanischen Reiches belegen wollte, also um ein frühes Beispiel von Bildpropaganda im Nahen Osten.