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Forschungsaufgaben

Die enge Verbindung zwischen Vernunftbegriff und Bildungskonzept gibt das Arbeitsprogramm für die Aufarbeitung der bildungsgeschichtlichen und -systematischen Zusammenhänge vor und benennt zugleich das Desiderat der Bearbeitung dieser großen bildungsgeschichtlichen Tradition. Denn im Zuge der schrittweise erfolgten Aushöhlung und der Aufgabe des Bildungssystems der Artes liberales ist die Kenntnis der Autoren und Texte, die in der Antike und im Mittelalter als Grundbücher der Bildung die allergrößte Verbreitung besaßen, fast vollständig verloren gegangen. Die Folge ist, daß ein Großteil der fundierenden Texte heute nicht in einer kritischen Edition und in Übersetzung vorliegt. Kommentare fehlen fast völlig. Dort, wo es Editionen gibt, fehlt bisher häufig eine systematische Analyse der vorausgehenden Bildungstradition und des in ihr zugrundegelegten Vernunftbegriffs.

Die konzeptionelle und textliche Überlieferung der Artes liberales erfolgte seit der Spätantike nicht nur auf einem Weg und nicht nur in das lateinisch-christliche Mittelalter und von dort aus in die abendländische Neuzeit hinein, sondern es gab wichtige Überlieferungswege über syrische, jüdische und persisch-arabische Autoren und Schultraditionen. Auf vielen dieser Wege wurden Texte überliefert, kommentiert und interpretiert, die auch im lateinischen Mittelalter großen Einfluß ausübten. Über diese Überlieferungswege gibt es bis heute nur sehr rudimentäre Forschungen. Wir wissen bislang nicht, welche Autoren welche Texte gelesen, übersetzt und weitertradiert haben. Wir wissen auch wenig über die Kommunikationswege zwischen dem griechischen und arabischen Osten und dem lateinischen Westen. Das gilt zwar nicht nur für die Texte der Artes-Tradition, anhand derer lassen sich diese Wege aber am besten erschließen und aufarbeiten, weil wir eine breite Überlieferungsbasis besitzen. Dazu kommt, daß im interkulturellen Vergleich die große kreative Flexibilität des platonischen Bildungskonzepts und Vernunftbegriffs besonders augenscheinlich werden kann.

Als hinderlich erweist sich in der bisherigen Erforschung der Artes liberales der Umstand, daß "die" Antike nicht hinreichend mit Blick auf ihre unterschiedlichen erkenntnistheoretischen und anthropologischen Prämissen hin differenziert wird. Denn die Geschichte der Opposition zweier unterschiedlicher Vernunftbegriffe und davon abgeleiteter Wissenschaftskonzepte beginnt nicht erst mit dem Affekt gegen die mittelalterliche Scholastik, sondern findet bereits innerhalb der Antike statt. Sie beginnt im Hellenismus – ebenso wie in der Frühen Neuzeit – mit einer radikalen Wende in der Wissenschaftstheorie. Die Parallelität dieser beiden wissenschaftstheoretischen Schlüsselepochen ist bis heute nicht untersucht und noch nicht für die gegenwärtige Standortbestimmung und Neuorientierung der Geisteswissenschaften nutzbar gemacht worden.

Zu deren Erforschung gehört auch die Analyse, zu welchen Zeiten der platonische und aristotelische Rationalitätsbegriff die Ausbildung der Artes liberales oder konkurrierender Bildungsentwürfe dominiert hat, und zu welchen Zeiten die hellenistischen Grundlagen wirksam geworden sind. Eine differenzierte Aufarbeitung dieser Quellenfrage verspricht einen entscheidenden Beitrag für die Frage nach den Gründen und Prozessen zu leisten, in denen sich die in vielerlei Hinsicht aporetische Situation der modernen Bildungsbegriffe und der sie fundierenden Vernunftbegriffe ausgebildet hat. Um dies leisten zu können, ist es erforderlich, auf einer breiten und interdisziplinären Basis und mit einer hinreichend langen zeitlichen Perspektive diesem Zentralthema der europäischen Kultur und ihrem Austausch mit östlichen Kulturen eine gründliche historische und systematische Untersuchung zu widmen.