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Geschichte

Die Artes liberales sind der historische Ursprung der Tradition der Geisteswissenschaften. Konzeptionell begründet wurden sie im 4. Jhd. v. Chr. Platon hat zu dieser Zeit in seinem Dialog Politeia ein Erziehungskonzept entwickelt, dessen Kern der Entwurf und die Begründung einer "communis mathematica scientia", einer "allgemeinen mathematischen Wissenschaft" ist. Die mathematischen Wissenschaften bieten im Sinne Platons solche Erkenntnisgegenstände, die zur kritischen Reflexion auf die eigene Vernunft und ihre Prinzipien am besten geeignet sind. Man lernt, wenn man Arithmetik, Geometrie, Musiktheorie und Astronomie studiert, etwas über sich selbst und die eigene Rationalität.

Dieser Grundgedanke hat sich in der Spätantike und im Mittelalter als ausgesprochen flexibel und kreativ erwiesen. Die Artes liberales als Schule des selbständigen und kritisch begründeten Wissens waren nicht nur in der griechischen und lateinischen Spätantike, sondern auch in den syrischen, jüdischen, arabisch-persischen und christlichen Traditionen, die dieses Konzept weiterentwickelt haben, die Grundlage für jede höhere Bildung. Der differenzierte und (in einem rationalen Sinn) ganzheitliche Rationalitätsbegriff, der in der Grundbildung gelehrt wurde, erwies sich als Brücke zwischen den Religionen, zwischen Christentum, Islam und Judentum, und zwischen den östlichen und westlichen Kulturen. Die Einübung und Entfaltung des rationalen Denkens durch die mathematischen Wissenschaften waren in den antiken und mittelalterlichen Traditionen das primäre Erziehungsziel.

Die zweite Säule der Artes liberales, die sprachlich-formale und musische Grundbildung in Grammatik, Rhetorik und Dialektik, diente der Vorbereitung auf dieses Ziel. Es sollten in diesem "Trivium", dem propädeutischen Dreiweg, die formalen Voraussetzungen geschaffen werden, auf denen die Schulung der Vernunft und ihrer kritischen Entfaltung aufbauen und gelingen konnte.

Von dieser doppelten Basis – der sprachlich-formalen Propädeutik und der "mathematischen" Vernunftbildung – gingen im 14. Jahrhundert aus den mittelalterlichen Fakultäten, in denen aufbauend auf den Fächern der Artistenfakultät Theologie, Medizin und Recht gelehrt wurden, über verschiedene Vermittlungsstufen unsere heutigen Universitäten hervor.

Formal verwirklichten diese frühen Universitätsgründungen noch die Einheit von Geistes- und Naturwissenschaften, die für die antike und mittelalterliche Wissenschaftssystematik fundierend gewesen war. Es kam jedoch seit dem 14. Jhd. zu einer zunehmenden Emanzipierung der "trivialen" Wissenschaften, aus welcher vom 16.-19. Jhd. unsere modernen Geisteswissenschaften hervorgegangen sind. Sie entwickeltenn eigene Methoden und traten in immer schärferen Gegensatz zu den jetzt primär empirisch fundierten Naturwissenschaften. Wenn Wilhelm Dilthey im 19. Jhd. eine radikale Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften konstatiert, dann ist dies das Produkt dieser Emanzipationsbewegung, die im Spätmittelalter einsetzt.

Diese Emanzipationsbewegung hat bestimmte historische Gründe und läßt sich als historischer Prozeß nachzeichnen. Ihre eigentliche Begründung aber findet sie in einem veränderten Konzept von Rationalität, das sich im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit als unabhängige Alternative zu dem antiken platonischen Konzept auszubilden beginnt und in der Aufklärung einen ersten Höhepunkt erreicht.